Buchempfehlungen, Reviews & Briefe an die Autor*innen

Body Politics von Melodie Michelberger

Body Politics von Melodie Michelberger

Melanie-Jasmin Jeske aka Melodie Michelberger ist eine feministische Fettaktivistin. Sie arbeitete unter anderem als Redakteurin für die Zeitschriften Brigitte und Gala sowie für verschiedene Modelabels. In ihrem Buch Body Politics arbeitet sie ihre eigene Körpergeschichte auf, die stark davon geprägt ist, dünn sein zu müssen und nach Idealen zu streben. Ihre Körpergröße bewegt sich heute am Rande dessen, was in der Gesellschaft noch als „akzeptabel1„small fatty“/ „acceptable fat“ angesehen wird. Deshalb interviewt sie in Body Politics weitere (Schwarze) Frauen und bezieht somit auch intersektionale Sichtweisen mit ein. Durch die Beschreibung ihrer Erlebnisse und ihrem Ausbruch aus den herrschenden Körperzwängen deckt sie Stück für Stück die Fettfeindlichkeit unserer Gesellschaft auf.


Liebe Melodie,

Dein Buch hat mich sehr inspiriert. Selten saß ich so planlos vor dem Laptop und wusste gar nicht, wo ich beginnen soll. Vermutlich liegt das daran, dass ich ähnliche Erfahrungen wie du gemacht habe und ein ambivalentes Verhältnis zu meinem Körper habe. Hiermit spreche ich also eine Triggerwarnung aus – es wird um Essstörungen gehen. Dein Buch und deine Stärke berühren mich sehr. Deshalb handelt es sich bei diesem Artikel nicht nur um ein Review, sondern auch um einen persönlichen Blick in die Vergangenheit. Als Erstes tauche ich in die Geschichte meines eigenen Körpers ein und setze mich kritisch damit auseinander. Danach gehe ich auf die Beobachtungen aus deinem Buch ein, die mir am stärksten im Gedächtnis geblieben sind.

Ähnlich wie du war ich schon in der Grundschule das größte Mädchen der gesamten Klasse. Damals hasste ich nicht nur meine Größe, sondern auch den Fakt, dass ich schon relativ früh weibliche Züge annahm. Ich erinnere mich an ein damaliges Familienfest, wo sich eine mir völlig fremde Person darüber erstaunte, dass ich mit meinen neun Jahren aussah wie fünfzehn. Dabei handelt es sich nicht einmal um einen bösartigen Kommentar, für mich fühlte es sich aber so an. Solche Kommentare kamen damals von allen möglichen Erwachsenen  – Lehrer*innen, entfernte Verwandte, Eltern anderer Freund*innen. Dass es mir unangenehm war, wussten oder merkten sie zumeist. Gekonnt ignoriert ließen sie mich trotzdem nicht in Ruhe damit. So hatte ich schon damals das unterschwellige Gefühl, dass ich zu groß war, zu breit, zu massiv. Oder in deinen Worten: zu viel. Warum ist es normal, den Körper einer Heranwachsenden zu kommentieren und zu beurteilen?

Mit der Pubertät und dem ersten Interesse an Jungen verschlimmerte sich dieses Gefühl bei mir. Mit dem Wechsel auf die weiterführende Schule wurde mir von der Mutter einer damaligen Bekannten übergriffig empfohlen, endlich einen BH zu tragen, sonst bekomme man irgendwann „Hängebrüste“, das Rotwerden beim Sport wurde mir auf einmal unangenehm, da ich damit verband, unsportlich (also vorurteilsmäßig dick) zu sein, in der siebten Klasse behauptete ein Mitschüler, dass meine Oberschenkel zu dick waren und ich in Leggins aussehe wie ein Elefant. Mit meinem ersten festen Freund und der zugehörigen Freund*innenclique schwand nicht nur mein Selbstbewusstsein, sondern auch mein letztes positives Körpergefühl. Statt endlich stolz auf meine weiblichen Kurven sein zu können, war ich auf einmal nicht mehr weiblich genug. Die Instagram- und Body-Aktivistin SchwarzRund beschreibt diesen Umstand sehr treffend: „Dicksein ist ein Konstrukt – was an dem einen dick ist, ist an dem anderen richtig“. Mein damaliger Freund sprach hinter meinem Rücken folgendermaßen über meine Brüste: „Sie sind wie Chipstüten. Sieht von außen viel aus, aber ist nicht viel drin“. Haha. Ein anderer Junge aus der damaligen Clique gab mir den gehässigen Namen „Rindvieh“. Diese Bezeichnung traute ich mich erst Jahre später auszusprechen, da ich mich sehr dafür schämte. Mittlerweile weiß ich, dass solche Bemerkungen nur etwas über eigene Selbstwertproble aussagen, nicht aber über meinen Körper. Damals jedoch trafen sie mich sehr. Auch gehässige Äußerungen über andere Freundinnen, die Urteile bekamen wie „zu große Nippel“, machten mir zu schaffen. Anstatt sich miteinander über das erlebte Bodyshaming auszutauschen, schloss man sich der „female competition“ an und machte die Körper anderer schlecht, um bloß nicht denselben Stempel aufgedrückt zu bekommen. Dabei ist es kein Wunder, dass wir uns damals noch nicht miteinander solidarisierten, denn als all diese widerlichen Kommentare über uns herzogen, waren wir gerade einmal fünfzehn Jahre alt und hatten von Feminismus oder Mechanismen wie Bodyshaming noch nie etwas gehört. Zu dieser Zeit wog ich 64 Kilo.

Warum ich weiß, wie viel ich damals wog? Auch du hast festgestellt, dass du einzelne Lebensphasen daran festmachen kannst, wieviel du zu jener Zeit gewogen hast. Mir geht es ähnlich. 84 Kilo, so viel wog ich circa drei Jahre später. „Wie konnte das passieren?“, fragten mich damals viele, als hätte ich einen riesigen Fehler begangen. Ich wusste es nicht. Was ich aber weiß, ist folgendes: Nicht das Zunehmen an sich, sondern die ständige (vorwurfsvolle) Konfrontation damit, stürzten mich in das extrem ungesunde Verhältnis, das ich damals zu meinem Körper pflegte. Ich suchte etwas, um das über Jahre entstandene Minderwertigkeitsgefühl zu kompensieren, und fand es – paradoxerweise – im Essen. Damit begab ich mich in einen Kreislauf, den ich erst durch einen Umzug und eine neue Lebensrealität durchbrechen konnte.

Heute, fünf Jahre später, kann ich endlich offen darüber sprechen. Ich werde mittlerweile als schlank gelesen, bin weiß, jung und habe keine Behinderung – ich weiß, dass ich aus einer sehr privilegierten Sicht schreibe und dem gesellschaftlich vorgegebenen Ideal nahezu entspreche. Aus diesem Grund fällt es mir heute leichter, offen darüber zu kommunizieren. Ich frage mich oft, ob ich denselben Mut besitzen würde, wäre ich immer noch dick_fett2Bei dick_fett handelt es sich um eine Selbstbezeichnung.. Insofern habe ich einen riesigen Respekt vor jeder*jedem Fettaktivist*in, die*der sich öffentlich dazu äußert und auf herrschende Missstände aufmerksam macht. Ich kann mittlerweile nur noch in der Vergangenheitsform von der erlebten Diskriminierung berichten – und dennoch möchte ich meine Geschichte teilen. Auch ich bin nach wie vor von der im Buch beschriebenen Diätkultur3S. 50: „Diätkultur beschreibt eine Gesellschaft, auf der ein unsichtbares Netz aus Definitionen und Glaubenssätzen liegt, das den Wert eines Menschen anhand seines Äußeren definiert“ betroffen und auch ich ertappe mich manchmal dabei, dass ich trotz eigens erlebter Diskriminierung (unterbewusst) fettfeindlich denke.

In Body Politics gehst du der Frage auf die Spur, woher dieses fettfeindliche Denken kommt. Bevor ich dein Buch gelesen habe, habe ich mir komischerweise nie wirklich bewusst gemacht, dass hinter der Diskriminierung dick_fetter Menschen ein System steckt. Schlank zu sein, ist in unser Gesellschaft nicht nur ein Ideal, sondern auch ein Statussymbol. Eine Person, die als schlank wahrgenommen wird, hat oft gesellschaftliche Vorteile. Ein Beispiel hierfür ist die Jobsuche. Einer schlanken Person werden allerhand positive Eigenschaften zugeschrieben (schön, erfolgreich, diszipliniert,…), während dick_fett zu sein, negativ konnotiert ist (ungesund, faul, nicht durchsetzungsfähig, …). Es muss erst einmal das Gegenteil bewiesen werden.

Hinter der Fettfeindlichkeit steckt also ein strukturelles gesellschaftliches Problem, das von der heutigen Konsumgesellschaft mitgetragen und verstärkt wird. Wie bei jeglichen strukturellen Phänomenen geschieht das durch Sozialisation. Schon früh bemerkt man, was gesellschaftlich erwünscht ist und was nicht. Wie auch in meinem Fall: Schon früh war mir unterbewusst klar, dass es für Mädchen bzw. Frauen anscheinend erstrebenswert ist, eher klein und zart zu sein. Warum das so ist, ist eine andere Geschichte, die tief in die feministische Theorie hineinreicht und mit der ich mich in folgenden Reviews stärker auseinandersetzen werde. Aber halten wir fest: Feminismus und die Bekämpfung herrschender Körperideale sind nicht voneinander trennbar.

Was genau ist damit gemeint, dass die heutige Konsumgesellschaft die Fettfeindlichkeit fördert? Du stellst in Body Politics eine Frage, die mich sehr zum Nachdenken angeregt hat: Warum ist es normalisierter, untereinander über „Problemzonen“ des Körpers oder Diäten zu sprechen, als darüber, was man an seinem eigenen Körper mag? Dieser Blick, den viele (mich eingeschlossen) auf den eigenen Körper haben, ist sehr toxisch: Dauernd kritisiert man seinen Körper und damit auch seine eigene „Unfähigkeit“, bestimmte Körperstellen zu optimieren. Ist man mit einer Körperstelle zufrieden, taucht ein neuer „Makel“ auf. Und genau hier liegt der Knackpunkt: Warum hören wir nicht auf, uns ständig selbst optimieren zu wollen? Die Antwort liegt schlicht darin, dass Zufriedenheit mit dem eigenen Körper in der Diätindustrie nicht gewollt ist. Nicht umsonst liegen Schönheitsideale in ferner Reichweite – der Taillenumfang von Size Zero entspricht dem durchschnittlichen Umfang eines 8-jährigen Mädchens (S.54)! Auch wenn sich Schönheitsideale konstant wandeln, sind sie immer möglichst unerreichbar. Gerade ist es angesagt, à la Kim Kardashian eine superschlanke Wespentaille, dabei aber große Brüste und einen großen Po zu haben. Diese Unerreichbarkeit fördert den Bedarf an abhilfeschaffenden Produkten. So profitieren viele verschiedene Industriebereiche davon (z.B. Kosmetik, Wellness, Mode, Werbung…), die zusammen die sogenannte Diätindustrie ergeben. Sie macht allein in Europa über 100 Milliarden Euro Umsatz pro Jahr (S.55).

Neben des Aspekts „Diätkultur und -industrie“, der für mich einer der prägendsten in diesem Buch war, sprichst du weitere Themen an, die meiner Meinung nach dringend Gehör finden sollten. Zum einen kritisierst du die sogenannte Body-Positivity Bewegung. Denn auch diese wurde nach und nach von (schlank gelesenen) Influencer*innen und der Diätindustrie unterlaufen: Um sich selbst zu lieben bzw. „körper- bzw. fettpositiv“ zu werden, müssen wir achtsam sein und „Self-Care“ betreiben – am besten mithilfe dieses einen Entspannungs-Badesalzes oder dieser „Healthy Bowl“. Ich möchte hier nicht gegen Achtsamkeit und Selbstfürsorge wettern. Auch finde ich es wunderschön, wenn Personen sich rundum wohl in ihrem Körper fühlen. Doch ich verstehe definitiv, worauf du mit deiner Kritik hinauswillst: Keine Body Positivity der Welt packt das wirkliche Problem am Schopf. Statt an den Diskriminierungstendenzen der Gesellschaft zu arbeiten, wird das Problem auf die individuelle Ebene geschoben und eine vermeintliche Lösung im Rahmen des kapitalistischen Systems angeboten. Bei einer solch fettfeindlichen Sozialisierung ist es doch völlig normal, wenn man sich manchmal unwohl im eigenen Körper fühlt. Körperpositivismus sollte kein Zwang sein – stattdessen ist es doch schon ein riesiger Schritt, ein neutrales Verhältnis zum eigenen Körper zu entwickeln und anzuerkennen, was dieser Tag für Tag zu leisten vermag.

Wenn mir heute jemand zu meinem Mut gratuliert, mich so zu zeigen, wie ich bin, wundere ich mich. Es sagt viel über die Kultur aus, in der wir leben, dass wir es „mutig“ finden, wenn sich Menschen so präsentieren, wie sie sind.

S. 143

Zum anderen sprichst du zwei Bereiche an, in dem fettfeindliche Diskriminierung eine besondere Rolle spielt: Mode und Gesundheit. Durch dein Buch habe ich vor allem was den zweiteren Bereich angeht, einen breiteren Blickwinkel bekommen. So berichtest du zum Beispiel von unangenehmen Ärzt*innenbesuchen, bei dem Gesundheitsprobleme vorschnell auf das Gewicht geschoben werden. Ich denke, dass einige Punkte, die du anbringst, definitiv stärker berücksichtigt oder neu evaluiert werden müssten. Sehr interessant ist beispielsweise die Geschichte des Body Mass Index, kurz BMI, der in der Medizin standardmäßig genutzt wird. Seine zugrundliegende Formel wurde schon 1832 entwickelt und hatte zum Ziel, die durchschnittlichen Körperproportionen der Menschen festzustellen. Erst 1970 wurde er zum Mittel, um vermeintliches Unter- oder Übergewicht festzustellen. 1988 setzte die Weltgesundheitsorganisation die Grenze für das „Normalgewicht“ von 27,8 auf 25 herunter, da eine runde Zahl einfacher zu merken sei, womit von einem auf den anderen Tag doppelt so viele US-Amerikaner*innen als „adipös“ galten. Des Weiteren kritisierst du, dass hohes Gewicht zu schnell für Krankheiten wie Bluthochdruck verantwortlich gemacht wird. Viele Studien weisen nach, dass anhaltende Diskriminierung Stress auslöst und ebenso zu einem hohen Blutdruck führen kann. Die Ursachen werden jedoch nicht untersucht und stattdessen dem Gewicht zugeschrieben. Hier liegt noch ein langer Weg vor unserer Gesellschaft. Obwohl so viele Menschen Bodyshaming erfahren, ist die Diskriminierung aufgrund äußerlicher und körperlicher Merkmale (noch) nicht offiziell anerkannt. Mit weiteren Fettaktivist*innen setzt du dich deshalb für die Aufnahme der Diskriminierung aufgrund äußerer und körperlicher Merkmale in das Diskriminierungsverbot (Art. 3 des Grundgesetzes) ein.

Liebe Melodie, danke, dass du dieses Buch geschrieben hast. Ich könnte hier noch einige Seiten länger über deine Erfahrungen, Beobachtungen und Argumente schreiben. Um nicht das gesamte Buch vorwegzunehmen, möchte ich an dieser Stelle jedoch eine riesige Leseempfehlung aussprechen und jede*n dazu animieren, sich mit dem Thema Fettfeindlichkeit und dessen Verankerung in der Gesellschaft auseinanderzusetzen. Lasst uns damit anfangen, Körperideale zu hinterfragen, auf Diskriminierungen aufmerksam zu machen und aufhören, die Körper anderer (ungefragt) zu kommentieren und zu bewerten. Lasst uns anfangen, unsere Körper zu akzeptieren und eine Antwort auf die Frage der Fettaktivistin und Sextherapeutin Sonalee Rashatawars geben: „Was, wenn du dich durch die Welt bewegst, als wärst du einfach zu lieben?“

Magda


Das war mein Review des Buches „Body Politics“ von Melodie Michelberger. Für die neuesten Updates, weitere Rezensionen und Buchempfehlungen folgt mir gern auf Instagram.

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